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«Vernunft setzt uns nicht in Bewegung.»

Mit einem starken «Purpose» kann ein Unternehmen Motivation und Loyalität unter den Mitarbeitenden steigern. Doch damit Mitarbeitende im Beruf Erfüllung finden, müssen sie auch selbst erkennen, was ihnen wirklich wichtig ist.

Der Journalist und Coach Mathias Morgenthaler hat in den letzten 20 Jahren mehr als 1000 Menschen interviewt, die in ihrem Beruf ihrer Berufung folgen. Die besten dieser Interviews hat er in seinem Buch «Out of the Box» veröffentlicht. Wir wollten von ihm wissen, wie Menschen auch in grossen Organisationen berufliche Erfüllung finden. (Dieses Interview erschien in ausführlicherer Form erstmals in der Mitarbeiterzeitung der AMAG).

Mathias Morgenthaler, wie sind Sie auf die Idee gekommen, Interviews zu Beruf und Berufung zu führen und wann wurde diese Idee zu Ihrer Passion?

Mathias Morgenthaler: Ehrlicherweise muss ich sagen, dass es nicht meine Idee war. Die Zeitung hatte ein neues redaktionelles Gefäss im Umfeld der Stellenanzeigen geschaffen. Ein Vorgesetzter traute mir etwas zu, wofür ich noch gar keinen Leistungsausweis hatte, nämlich wöchentlich eine halbe Seite zu Themen aus der Arbeitswelt zu füllen. Und dies im Alter von 21 Jahren und mit der Erfahrung eines Zweitliga-Sportberichterstatters. Ich musste mir überlegen, wie ich dies hinkriege. Die Form des Interviews drängte sich auf, weil sie journalistisch einfacher ist. Mit der Zeit fand ich heraus, dass dies nicht nur für mich praktisch ist, sondern dass durch den Fokus auf eine Person sehr persönliche Berufsportraits entstehen, die viele Leser berühren. Die Interviews erinnern daran, dass man beruflich seinen eigenen Weg gehen kann und sich nicht in erster Linie anpassen und einen beliebigen Job machen muss. Deswegen heisst die Serie «Beruf + Berufung». Ich habe erst über die Jahre verstanden, was ich da eigentlich mache. Die Resonanz auf die Interviews zeigte, dass hinter jeder Geschichte Tausende weitere Menschen stehen, die sich danach sehnen, auch ihren eigenen Weg zu gehen und etwas Persönliches zu tun.

In Ihrem Buch «Out of the Box» porträtieren Sie vor allem Menschen, die ihren bisherigen Beruf aufgaben, um in einer neuen Tätigkeit ihre Erfüllung zu finden. Haben Sie auch Menschen getroffen, bei denen «Out of the Box» auch ohne Jobwechsel möglich war?

Ja, diese Geschichten gibt es. Allerdings ist es schwieriger, sie zu erzählen, da angestellte Mitarbeitende einem Journalisten oft gar nicht Auskunft geben dürfen. Deshalb komme ich schneller mit Einzelunternehmern, Selbstständigen und Jobwechslern ins Gespräch. Aber ich kann Ihnen mein eigenes Beispiel erzählen: Seit 20 Jahren bin ich beim «Bund» und seit diesem Jahr bei der Tamedia-Wirtschaftsredaktion angestellt, konnte viele unterschiedliche Aufgaben übernehmen und dies mit vielen Freiheiten. Als Angestellter erhielt ich immer wieder die Möglichkeit, mit hoher Eigenverantwortung Neues zu entwickeln. Unabhängig davon, ob man angestellt oder selbstständig ist, hängt vieles davon ab, ob man weiss, was man erreichen will, und ob einem klar ist, was man braucht, um diese Leistung zu erbringen. Meine Lehr- und Wanderjahre hatte ich in den Ressorts Sport, Lokales und Ausland. Dann erhielt ich das Angebot, Wirtschaftsredaktor zu werden. Da ich Literatur- und Sprachwissenschaften und nicht Wirtschaft studiert hatte, war es nicht mein Ziel, die anderen Wirtschaftsjournalisten mit Fachwissen zu übertrumpfen. Mein Beitrag bestand darin, die Wirtschaftswelt aus einer philosophischen und psychologischen Perspektive zu betrachten und grundlegende Fragen zu stellen. So interessierten sich auch Leser für meine Texte, die sonst den Wirtschaftsteil überblättern. Ich bin dankbar, dass mein Chef mir diese Sonderrolle zugestanden hat. Viele werden früh darauf getrimmt, keine Fehler zu machen und nicht von der Norm abzuweichen – im Elternhaus, in der Schule, im Unternehmen. Sie durchlaufen eine Anpassungskarriere und verlieren den Bezug zu ihren Stärken, zu ihrer persönlichen Handschrift. Darum ist es so wichtig, ein Gefühl dafür zu entwickeln, wo das eigene Kerntalent liegt.

Es geht also auch um Selbstverantwortung?

Ja, man muss für seine Ziele einstehen. Man muss dafür kämpfen. Ich habe immer etwas Mühe, wenn Leute jammern, klagen und darauf warten, dass jemand ihnen den Teppich ausrollt oder eine Bühne bietet. Wir sind alle dazu aufgerufen, uns unsere Bühnen selbst zu schaffen und unsere Ambitionen anzumelden. Tut man dies, sieht man relativ schnell, ob der Arbeitgeber interessiert ist an Leuten mit Initiative und Hartnäckigkeit, oder ob Konformität erwartet wird. Dann kann man entscheiden, ob man bleibt oder weitergehen muss. Ich beobachte, dass Angestellte sich oft über zu wenig Spielraum beklagen, aber nicht bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Man schimpft lieber über Vorgesetzte, die einen einschränken. Deswegen möchte ich mit der Interviewreihe «Beruf + Berufung» Menschen dazu ermutigen, in ihrer beruflichen Tätigkeit mehr Selbstverantwortung zu übernehmen und sich klarer darüber zu werden, was sie beruflich bewegen wollen.

In Ihrem Buch haben Sie Thesen abgeleitet, die bei der Suche nach der eigenen Berufung helfen können. Eine davon heisst «Vernunft wird überschätzt». Was meinen Sie damit?

Bei Veränderungen oder bei Neuerungen ist Vernunft nicht die treibende Kraft. Vernunft ist sehr gut, um zu optimieren, um einzelne Etappen zu einem Ziel zu definieren. Aber Vernunft setzt uns nicht in Bewegung. Es sind Herz und Bauch, die den Impuls geben. Nur misstrauen viele diesem Bauchgefühl oder den körperlichen Signalen dafür, dass etwas passieren muss. Es wird sofort rationalisiert, und man findet meist viele Gründe, warum eine Veränderung zum jeweiligen Zeitpunkt nicht sinnvoll ist. Im Coaching habe ich viele Menschen in Veränderungsphasen getroffen, die mir sagten: «Ich habe endlose Pro- und Kontralisten gemacht und weiss alles, was ich darüber wissen kann, aber ich habe trotzdem kein Gefühl dafür, welches jetzt der richtige Schritt ist.» Die meisten Firmen wären wohl nie gegründet worden, wenn die Unternehmer rein nach Vernunft entschieden hätten. Eine Firmengründung war immer schon eine Wette gegen die Statistik. Ein Unternehmer glaubt an etwas und brennt dafür, obwohl viele Dinge dagegensprechen.

Wenn man sich in einer Organisation Gestaltungsraum verschaffen will, braucht es dafür dann nicht auch eine ordentliche Portion Ehrgeiz?

Ja. Will man in einer grösseren Organisation aufsteigen, muss man schon mal die Ellenbogen ausfahren. Und natürlich gibt es auch Personen, die Karriere machen, weil sie rücksichtsloser sind als andere. Nur kommen wir in eine Zeit, in der es nicht mehr unbedingt eine Führungsspanne von tausend Personen braucht, um etwas zu bewegen. Es braucht nicht mehr 50 Jahre und CHF 50 Millionen Kapital für einen Werkzeugpark, um etwas zu erzeugen. Die gute Nachricht für alle Ambitionierten: Vorne dabei ist man heute mit starken Ideen und Wirkung beim Kunden. Und nicht, weil man sich in der Hierarchie gut nach oben kämpfen kann. Ambition ist auch für das Unternehmen selbst wichtig. Eine langjährige Firmentradition ist keine Garantie mehr für den künftigen Erfolg. Unternehmen können nicht nur auf Machterhalt und Bekämpfung der Konkurrenz setzen. Die Finanzbranche beispielsweise hat hier grosse Herausforderungen zu bewältigen. Da junge und agile Unternehmen in den Markt drängen, müssen sie sich überlegen, welche Ambitionen sie neben dem Geldverdienen überhaupt haben. 15% Eigenkapitalrendite taugen nicht zur Ambition. Man muss dem Kunden etwas Interessantes anbieten wollen.

«Wer neugierig bleibt, wird jünger alt» – so eine weitere These in Ihrem Buch. Ist Neugier nicht eine Ausprägung, über die man verfügt oder nicht? Oder denken Sie, dass es Wege gibt, die eigene Neugier zu wecken?

In meinem Tennisclub habe ich einen Kollegen, der mir im Alter von 49 Jahren sagte, er lese meine Interviews stets mit Interesse, sei selbst aber zu alt, um noch etwas zu verändern. Er arbeitet bei der Kantonsverwaltung und legte mir plausibel dar, warum Veränderung nicht möglich sei. Am selben Tag hatte ich ein Interview mit einer 82-jährigen Unternehmerin. Sie erzählte mir, sie habe die beste Zeit ihres Lebens und sei soeben mit ihrem Brillengeschäft ins E-Business eingestiegen. Beide haben recht. Für die eine ist der Job mit 82 am spannendsten und für den anderen ist es mit 49 zu spät, um noch etwas zu entdecken. Es ist alles eine Frage der Haltung. Veränderungshaltung kann man trainieren und kultivieren. Letzthin habe ich von den beiden Logitech-Chefs gelesen, dass es aus ihrer Sicht für eine Organisation nichts Gefährlicheres gibt als Erfolg. Erfolg mache satt und mindere die Neugier. Organisationen tun gut daran, Neugier zu schulen und ein Umfeld anzubieten, in dem Neugier und Ideen als Werte angesehen werden. Doch es liegt vor allem am Einzelnen. Menschen überschätzen die externen Sachzwänge. Dies wohl auch, weil es nicht angenehm ist, sich mit den eigenen Ängsten und Unsicherheiten auseinanderzusetzen.

Die These «Wer alles im Griff hat, hat die Hände nicht frei» ist elegant formuliert. Doch versetzen wir uns in die Lage eines 55-jährigen Familienvaters mit Kindern in der Ausbildung und hoher Hypothek auf seinem Haus. Warum soll er Erfüllung suchen, indem er etwas weniger auf Sicherheit setzt und mehr Risiken eingeht – auch wenn ihn das eigene Unternehmen dazu ermutigt?

Es kommt auf die eigene Bereitschaft an. In Coachings höre ich oft, dass sich jemand nicht verändern kann, weil er zum Beispiel zuerst den Kindern das Studium finanzieren muss. Dies halte ich für eine gefährliche Haltung. Wer weiss, ob die Kinder überhaupt studieren wollen? Und wer sagt, dass sie sich das Studium nicht selbst finanzieren können? Man muss genauer hinschauen: Was sind wirkliche Sachzwänge? Was ist Angst? Was gehört eher zu der Ansicht, dass viel Geld viel Sicherheit bietet? Welche Glaubenssätze aus der Familie wirken einschränkend? Hier kann es helfen, sich mit einer Drittperson auszutauschen.

Sie schreiben, dass jemand, der alle Erwartungen erfüllt, keine Erfüllung erwarten darf. Braucht es, um beruflich glücklich zu werden, eine Prise Widerstand?

Ich finde, man sollte das Leben nicht als Prüfung sehen, bei der es darauf ankommt, möglichst wenige Fehler zu machen. Mir hat mal jemand im Coaching gesagt, er wüsste schon, was er machen möchte, «aber das Leben ist kein Wunschkonzert». Wenn jemand nach dem Leitsatz lebt «Zuerst die Pflicht, dann das Vergnügen», dann kommt er womöglich nie beim Vergnügen an. Er will sich stets noch etwas mehr anstrengen und die Dinge besser machen, um sich irgendwann frei zu fühlen. Die Freiheit muss aber nicht abverdient werden, sie besteht darin, sich auf Experimente einzulassen und Risiken in Kauf zu nehmen. Das Leben ist keine Prüfung, sondern ein Abenteuer und eine Entdeckungsreise. Unser Arbeitsleben, in dem wir im Durchschnitt 96,000 Stunden verbringen, darf ebenfalls eine Entdeckungsreise sein. Sonst stellt man in der Lebensmitte fest: Ich bin zwar sehr weit gekommen, aber meine Erfolge haben nichts mit mir zu tun. Deshalb geht es darum, seiner eigenen Ambition zu folgen und diese auch zu verteidigen. Das braucht Mut, Rebellion und Abgrenzung. Wer weiss, was er will, kann auch in einer grösseren Organisation auf dieses Ziel hinarbeiten. Was kann ich? Was will ich? Was ist mir besonders wichtig? Was ergibt Sinn für mich? Solche Fragen kann man sich nicht oft genug stellen.

Mathias Morgenthaler

Seit 1997 Journalist beim «Bund» in Bern, seit 2002 Wirtschaftsredaktor und seit diesem Jahr Mitglied der Tamedia-Wirtschaftsredaktion. Er studierte Germanistik und Kommunikationswissenschaft in Bern und Freiburg (lic. phil. hist.), ist Vater einer Tochter, lebt in Bern und am Bodensee, arbeitet in der ganzen Schweiz und gerne in Hamburg. Er ist Autor der Bücher «Beruf und Berufung» (Zytglogge 2010) und «Aussteigen – Umsteigen» (Zytglogge 2013, mit Marco Zaugg). Sein aktuellstes Buch erschien Ende 2017; «Out of the Box» (Zytglogge), eine Sammlung der besten Interviews und Thesen dazu, wie man seinen Beruf zur Berufung macht. Mehr zu Mathias Morgenthaler unter www.beruf-berufung.ch.

— Ralph Hermann / 17.4.2019